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Foto: Nico Helminger


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© Philippe Matsas/CNL

Nico Helminger

Nicolas Helminger
Differdingen

Pseudonyme: Tomas Bjørnstad

Nico Helminger ist der ältere Bruder von Guy Helminger. Er besuchte in Esch/Alzette die Grundschule und das Lycée de garçons. Nach dem Abitur 1972 studierte er Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in Luxemburg, Saarbrücken, Wien und Berlin. 1980 zog er nach Paris, wo er zunächst als Zeitungsverkäufer, danach als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte arbeitete. 1984 ging er nach München, wo er als freier Autor lebte, dann nach Heidelberg und schließlich wieder nach Paris. 1999 kehrte er nach Luxemburg zurück, wo er als freier Schriftsteller in Esch/Alzette lebt. Dort gestaltete er 2006 anlässlich der Jahrhundertfeier der Stadt den Themenabend De Minett - Brëch an der Landschaft.

Nico Helmingers literarisches Debüt Ende der 1970er Jahre steht im Zeichen der sozialen und politischen Funktionszuweisung von Literatur. Er setzte sich theoretisch wie belletristisch mit dem Medium des Theaters auseinander. Bereits in seiner Magisterarbeit hatte er über Dario Fo sowie über das Volkstheater von Arno Paul gearbeitet und daraus eine Politisierung des Volkstheaters abgeleitet. Indem er an Brechts Konzept des epischen Theaters anknüpfte, bekräftigte er seine Überzeugung, dass Literatur als Anregung zum Handeln durch Erkenntnis fungiert (rosch, oder, déi lescht rees). Die Dramen Miss Minett, de schantchen und schwarzloch sind gesellschaftskritische Stücke, in denen Nico Helminger die psychologischen Verkümmerungen und sozialen Defizite in der strukturschwachen Minetteregion aufzeigt. In den Schicksalen von Außenseitern sensibilisiert er für die bedrückenden Verhältnisse und die daraus entstehenden emotionalen Verhärtungen einzelner. In anderen Stücken (kitsch, leschten enns käe liewen) sowie im Prosaband de john grün, dout am bushaischen radikalisierte er seine Zeitdiagnose; innerfamiliäre Gewalt, sexueller Missbrauch, Selbstmord, Sucht und Arbeitslosigkeit werden hier als Symptome einer entfremdeten Dekadenzgesellschaft gezeichnet. Für die Ruhrfestspiele 2012 schrieb Nico Helminger das Stück Zu schwankender Zeit an schwankendem Ort, in dem er am Beispiel von zwölf Protagonisten die zeitgenössische neoliberale Gesellschaft als eine von Verlustängsten und Fremdenhass, vor allem aber von Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust und Instabilität geprägte analysiert. Der unsicher gewordene Wertehorizont sowie sich verändernde politische und soziale Koordinatensysteme entlassen die Individuen in eine ungewisse und konfliktreiche Zukunft. Die Komödie Boulevard Royal, die in einer Inszenierung von Jean-Paul Maes von denTheater im Kapuzinertheater im Februar 2012 uraufgeführt wurde,  greift Stoffe und Figuren aus Shakespeares Stücken Romeo and Juliet sowie Titus Andronicus auf und handelt von einer aus Geschäftssinn arrangierten Ehe zwischen den Kindern zweier Sanitärunternehmen. Lügen, Scheinhaftigkeit, Betrug sind komödientypische Elemente des Stücks. Nico Helminger übersetzte Patrick Süskinds Einakter Der Kontrabass (1981) ins Luxemburgische; das Stück wurde 2013 im Kasemattentheater uraufgeführt.

Im Gedichtband landschaft mit seilbahn verknüpfte Nico Helminger Ideologie- und Sprachkritik mit Formalästhetik, die für ihn in den 1990er Jahren eine zunehmende Bedeutung erhielt. Er begriff Literatur zunächst als ein Experimentierforum, in dem ästhetische Formen variiert, Traditionen adaptiert und Erwartungshaltungen provoziert werden, so etwa in den Prosatexten Frascht und dem Zeitungsroman in vier Jahreszeiten Die schöne Pharisäerin, den er 1995 im Tageblatt veröffentlichte, oder in den lyrischen Adaptionen von Haikus und Nagautas. In Grenzgang montiert er eigene Texte mit Fremdtexten gegeneinander und visualisiert somit literarische Transformations- und Überlagerungsprozesse, wie z. B. im Gedicht Palimpseste. Gleichzeitig steckt er in seinen Gedichten, die er "sentenzen" nennt, die Grenzen der Verständlichkeit ab und unterstreicht, dass die Darstellungsweise der Literatur für ihn nicht zugunsten ihrer Verstehensleistung vernachlässigt werden darf. Das Sprachspiel mit französischen, deutschen, englischen, italienischen und luxemburgischen Wörtern will ebenfalls eine Verwirrung bewirken und zugleich eine Matrix der poetischen Sprache ähnlich einer DNA-Sequenz (in eigener säure) etablieren. Grenzüberschreitungen beschrieb Nico Helminger auch in Reiseberichten und -erzählungen aus Algerien (medea, enn august, 1982. 1997). Der Gedichtband Abrasch, für den Nico Helminger mit dem Prix Servais 2014 ausgezeichnet wurde, ist in fünf, ungleich lange Zyklen gegliedert. Bis auf den Zyklus giele botter mit Gedichten auf Luxemburgisch, Deutsch und Französisch, sind alle anderen Texte auf Deutsch, abgesehen von den Motti, unter denen ein englischsprachiger Text eines langjährigen geistigen Wegbegleiters Nico Helmingers, Henry David Thoreau, zu finden ist. Abrasch, zugleich Titel des Gedichtbandes und des längsten Zyklus, bezeichnet eine gewollte oder unbeabsichtigte Farbabweichung bei Orientteppichen, die dann zustande kommt, wenn beim Teppichknüpfen der Faden ausgeht und sodann eine kleine Abweichung in der Tönung in Kauf genommen werden muss. Zugleich handelt es sich um einen von Ossip Mandelstam in der Lyrikgeschichte benutzten Begriff, um Dichtung als ein Textgewebe zu beschreiben. Damit erhellt Nico Helminger seine Poetik, wonach er Dichtung als Variation und Weiterführung ihr vorausgehender Texte begreift. Helminger greift auch in dem Sinne auf Ossip Mandelstam zurück, der die Quantentheorie als Modell dichterischer Kreativität begreift. Fragmente des Gedichtes wurden im Januar 2016 in der Philharmonie in Luxemburg in einer Klang- und Bildinstallation mit Vertonungen von Camille Kerger und Bildern des österreichischen Malers Markus Huber aufgeführt. 2020 erschien im irischen Verlag redfoxpress das mit sieben Serigrafien von Robert Brandy illustrierte Künstlerbuch Namen, in dem Nico Helminger in 14 Namur-Gedichten Beobachtungen der wallonischen Hauptstadt festhält. Saumes Kinoplakat (2022) ist eine in vier Zyklen eingeteilte Sammlung von Anagrammgedichten, deren Entstehung mit dem unter dem Heteronym Tomas Bjørnstad veröffentlichten Werk Von der schönen Erde (2022) zusammenhängt. Die vom Autor zu Petrarca- oder Shakespeare-Sonetten zusammengestellten Verse sind durchgehend nach einem Computeralgorithmus verfasste Anagramme, womit auf das in und mit den Texten thematisierte Verhältnis zwischen den Grenzen kreativer Sinnstiftung und der maschinellen Beliebigkeit Künstlicher Intelligenz verwiesen wird. Ausgangspunkt können Verse oder Aussagen anderer Dichter wie Jorge Luis Borges, Ernst Jandl, Jean-Paul Jacobs, Tania Naskandy, Guy Helminger oder Jean Krier sein, sodass die Sammlung auch ein Kommentar zur Entwicklung der Poesie von der Renaissance über den Dadaismus und die Postmoderne bis in die Zukunft darstellt.

Die Themen im Werk von Nico Helminger sind politische Ereignisse und Alltagsphänomene, wie z. B. der BSE-Skandal, die Gewaltbereitschaft und psychologische Brutalität der Dorfbevölkerung (Iwwer Land), die Dekonstruktion luxemburgischer Geschichtsmythen, insbesondere aus der Kriegszeit (Patton & Co), die Entideologisierung politischer Legendenbildung (John F. Kennedy, Sozialismus), der Erinnerungskultur, des Vereinslebens sowie der Arbeitswelt, die Kritik an repressiven Machtstrategien des Staates, der Kirche und der Medien (einer blättert im fahndungsbuch), die Desillusionierung der Träume. Vor allem seit Ende der 1990er Jahre beschäftigen Nico Helminger die Simulation virtueller Welten (Ein Mond aus kochender Milch, f@king love & death sou niewebäi, pink slip party, Zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort) sowie die aus der Überlagerung von fiktiven und realen Welten entstehenden, erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Konsequenzen (spontanen départ). Das Stück mit dem Titel Zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort, der auf ein Lukrez-Zitat zurückgeht, wurde auf den Ruhrfestspielen in Recklinghausen uraufgeführt; es verhandelt die Identitätsunsicherheit in einer Welt, die aufgrund der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Simulation nur noch als Simulacrum wahrgenommen wird. Das Stück now here & nowhere wurde 2008 unter Regie von Frank Hoffmann auf der Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden aufgeführt.

Im Roman Lëtzebuerger Léiwen, dessen erste Fassung zwischen 1970 und 1974 entstanden ist, wird in 41 Kapiteln, die wiederkehrende Titel tragen, die Jugendzeit von fünf Freunden erzählt, die in der Zeit des Schülerstreiks und der sozialen Umbrüche zu Beginn der 70er Jahre in Esch/Alzette sozialisiert werden. Der Roman endet im Mai 1974 am Wahlabend des Erfolgs der sozialliberalen Koalition. Kontrastiv zum politischen Diskurs und zur Politisierung der Gesellschaft montiert der Erzähler Episoden, in denen die Musik, die sexuelle Erfahrung, die Cafés und das Partyleben als zentral im Alltagsleben der Jugendlichen gezeichnet werden. Die Perspektive einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft wird im Entwicklungs- und Generationenroman einer Jeunesse dorée vom Alltag eingeholt, insofern Protagonisten mit Ausnahme von Pascal Hastert den vorgeebneten beruflichen und sozialen Weg der wohlhabenden, bürgerlichen Elterngeneration beschreiten. Lëtzebuerger Léiwen erzählt von der sexuellen Revolution und von der Jugendbewegung im Luxemburg der 1970er Jahre, von sich ändernden Sozialmodellen in Familie und Gesellschaft und von der allmählichen Auflösung des politischen Denkens zugunsten des momentanen Genusses. Im Folgeroman, Autopsie, der in den 1980er Jahren spielt, wird vor dem Hintergrund markanter Ereignisse in Luxemburg wie der Bommeleeër-Affäre oder des Papstbesuches die absteigende soziale Entwicklung von Joe Schreiber geschildert, der sich in Drogen, Alkohol, Partys und Kriminalität verliert. Nico Helminger porträtiert in einem narrativen Geflecht von Erinnerungen, Berichten und inneren Monologen insbesondere die Psyche und das Innenleben eines gefährdeten Adoleszenten, dessen Suche nach Auswegen erfolglos bleibt. In der Kurzerzählung Flakka thematisiert Nico Helminger das Geflecht zwischen Politik, Immobiliengeschäft, Drogen, Kriminalität und muslimischen Terrorismus in Esch/Alzette.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Luxemburg bis in die 2000er und 2010er Jahre thematisiert Nico Helminger in Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge (2017) in satirisch-kritischer Weise. Erzählt wird die Individuations- und die sexuelle Initiationsgeschichte von Menn Malkowitsch, der aus der Gesellschaft ausbrechen will, nach einer Phase der Selbstfindung im Angestelltenverhältnis bei der Post arbeitet, bevor er in der PR- und Kommunikationsagentur „Ubbus“ die Nation-Branding-Kampagne mitgestaltet. Der Roman, der sich im Sinne einer postmodernen Literaturvorstellung von François Lyotard zugleich als Erzählung versteht, enthält die ursprünglich in Sudelbüchern festgehaltenen Aufzeichnungen des Protagonisten. Dieser endet nach einem Burnout und einem Aufenthalt in einer Nervenklinik in einer Portiersloge einer Reglementierungsbehörde. Nico Helminger erzählt gebrochene Biografien, thematisiert soziale Risse und psychische Störungen, wie z. B. ein bipolares Krankheitsbild, portraitiert eine von beruflichem Erfolgsdruck, Konsum, Materialismus und von Doppelmoral gezeichnete Gesellschaft und diagnostiziert eine auf Schein basierende Selbstvermarktung des Einzelnen in einer von Konkurrenzdruck geprägten Gemeinschaft, in der die Simulation und die Künstlichkeit Authentisches und Individuelles überlagern.

In Kappgras (2023) versucht ein aus dem Koma erwachter, ich-erzählender Journalist und Schriftsteller sich mit Hilfe einer Gesprächstherapie und unter Pseudonym veröffentlichter biografischer Schriften seines eigenen Lebens zu erinnern. Der in zwei Bücher mit je drei Kapiteln eingeteilte psychologisch-kriminalistische Entwicklungsroman zeichnet chronologisch die einzelnen Lebensphasen bis zu dem das Koma verursachenden Unfall nach. Dreh- und Angelpunkt der Anamnese ist die Frage, inwiefern dieser Unfall mit den investigativen Recherchen zu einem korrupten und mafiösen internationalen Netzwerk diverser gesellschaftlicher Akteure sowie dem Verdacht des Protagonisten zusammenhängt, seine Frau sei plötzlich auf betrügerische Weise durch eine Doppelgängerin ersetzt worden. Der Handlung und dem komplexen Gesellschaftspanorama wird durchwegs die Beschreibung von Klassikern der Filmgeschichte gegenübergestellt, wobei es zu Überschneidungen kommt, durch welche die Grenzen zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen.

Die seit 2018 erscheinenden Texte von Tomas Bjørnstad, der laut Verlagsangaben 1984 in Trondheim geboren wurde und in Luxemburg aufgewachsen ist, leiten eine neue Phase in Helmingers Werk ein. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Heteronym, also einen fiktiven Autor mit einer fiktiven Biografie, den Nico Helminger im Sinne von Fernando Pessoa ins Leben gerufen und dessen Geheimnis er erst mit der Veröffentlichung von Von der schönen Erde (2022) gelüftet hat. Das autofiktionale Spiel mit der Identität dieses erfundenen Schriftstellers ist ein zentraler stilistischer und thematischer Bestandteil aller als „autobiografische“ Schlüsseltexte vermarkteter Publikationen, weil das lyrische und erzählerische Ich jeweils als Alter Ego des vermeintlichen Urhebers dargestellt werden. Mithilfe von text- und werkimmanenten, para- und intertextuellen Verweisen wird mit der Autor-Persona Bjørnstad eine werkübergreifende literarische Kunstfigur konstruiert. Dieser aufstrebende Schriftsteller, der durch einen ständigen Bezug auf literarische und musikalische Vorbilder die Pose des poeta doctus einnimmt, versteht sich als ein kritisches Sprachrohr der Luxemburger Generation Y.

Der in sechs Zyklen unterteilte Gedichtband Fjorde (2018), dessen Entstehung und Veröffentlichung in Die Tanzenden thematisiert wird, nimmt mit seinem Titel Bezug auf Bjørnstads Geburtsland Norwegen, das gemeinsam mit diversen Reisezielen als ein ambivalenter Sehnsuchtsort erscheint. In absurd-grotesken, aber auch prosaischen, den Alltag zugleich persiflierenden und romantisierenden Sprachbildern verhandelt das lyrische Ich neben Herkunftsfragen die Idiosynkrasien der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Eine wichtige Verbindungslinie zum Debütroman ist das Motiv des Tanzes, das durch die freien Verse mit Bjørnstads Hauptthemen verwebt wird: dem Nacht- und Kulturleben, dem DJing, dem Rausch, dem Alkohol- und Drogenkonsum, der Orientierungslosigkeit oder der Flüchtigkeit des Moments und des Daseins. Ausgangspunkt von Die Tanzenden (2019) ist eine gescheiterte Liebesbeziehung des Protagonisten, deren Aufarbeitung mit seiner den Roman prägenden Suche nach Identität und Lebenssinn parallelisiert wird, wobei die Flucht in den oberflächlichen Hedonismus von Kneipen- und Discobesuchen keine Lösung bietet. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach einer künstlerischen Lebensführung und dem Lebensalltag einer bürgerlichen Existenz, leidet er an einer hypokritisch und dekadent empfundenen Luxemburger Gesellschaft, der er sich letztlich jedoch nicht entziehen kann, weil er sie selbst verkörpert. Die psychischen Spannungen passen insofern zur formalen Gestaltung des Romans, als die zentralen Erzählabschnitte in der Ich-Form durchwegs durch fragmentarische Einschübe von Notizen, E-Mails, Blogeinträgen oder Auszügen aus einem dystopischen Comic-Skript unterbrochen werden. Satirisch-kritische Passagen betreffen insbesondere die Analyse gesellschaftsrelevanter Ereignisse (z.B. die Elf-Aquitaine-Affäre, der ING-Marathon oder das zehnjährige Jubiläum des Mudam), die Beschreibung von bekannten Luxemburger Persönlichkeiten oder die Diffamierung bestimmter Berufsgruppen wie Lehrern, Polizisten oder Politikern. Wegen eines kryptischen Hinweises in Die Tanzenden wurde zunächst auch Samuel Hamen im Feuilleton als möglicher Urheber von Bjørnstads Texten diskutiert.

Von der schönen Erde erscheint in Bjørnstads Werk als ein aus Prosa und Poesie, Erzähl-Entwürfen und Dialogen, Tagebucheinträgen und Auszügen aus bekannten und fiktiven literarischen Texten gemischtes Opus magnum, mit dem das Spiel der Autofiktion auf die Spitze getrieben und die Kunstfigur Bjørnstad durch eine Zersplitterung in mehrere Protagonisten dekonstruiert wird. So wird mit der erfundenen Figur Guy H unverhohlen auf Nicos Helmingers Bruder Guy angespielt, der folglich als weiterer potenzieller Urheber der Bjørnstad-Texte gesetzt wird. Das aleatorische, multiperspektivische und metafiktionale Werk besteht aus 128 Kapiteln, deren Reihenfolge der Leser selbst bestimmen muss, sodass sich die einzelnen Handlungsstränge, vergleichbar mit Julio Cortázars Vorbildroman Rayuela (1963), unterschiedlich kombinieren lassen. Indem der Untertitel Fragmente & Skizzen die Gattungsfrage problematisiert und auch fiktionsintern widersprüchliche Angaben über die Beschaffenheit des Textes geliefert werden, sperrt er sich selbst gegen eine genauere Klassifikation. Im Zentrum stehen Bjørnstads Recherchen zu Suiziden von Mitarbeitern eines dubiosen internationalen Beratungsunternehmens, die durch die teils lückenhafte Darstellung daran angrenzender Lebensgeschichten anderer Autorenfiguren ergänzt werden. In dem Kontext werden zudem Themen wie die Entfremdung der Arbeitswelt in einer neoliberalen Konsum- und Leistungsgesellschaft, verlorene Kindheit und soziale Desillusionierung, die zukünftigen Gefahren der künstlichen Intelligenz, die Eitelkeiten des (luxemburgischen) Kulturbetriebs oder die Fragilität poetischer Existenz behandelt. Nicht zuletzt vermittelt das Handlungsgeflecht auch ein Porträt der Esch-Alzette nachempfundenen und sich zu einer Smart City wandelnden Ortschaft Bjørnstadt, wo mit BjørnBling22 ein Esch22 parodierendes Kulturjahr veranstaltet wird, das auf den vom Autor missbilligten Seilschaften zwischen Politik und Wirtschaft gründet.

Nico Helminger trat auch als Kinderbuchautor hervor; er schrieb Geschichten wie D'Schoul brennt (zusammen mit Guy Rewenig) und drei Kinderstücke (ollimimischmulli [1978], wou geet ët hei op schlidderascht [1983], So, wéi as dat ............. mat der Léift? [1985]), in denen er als aufgeklärter Bürger zur Zivilcourage aufruft und ethische Grundsätze vermittelt. Zugleich setzte sich Nico Helminger auch theoretisch mit dem Kindertheater auseinander.

Nico Helminger veröffentlichte Gedichte und Prosatexte in verschiedenen renommierten internationalen und luxemburgischen Anthologien und Zeitschriften wie Europe, Action poétique, Galerie oder Les Cahiers luxembourgeois. Einige Lieder wurden von Fernand Kimmel, Albert Marinov und Josée Dostert vertont. Aus der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Camille Kerger entstanden vier Kammeropern (Melusina [1995], Rinderwahn [1998], Ein Mond aus kochender Milch [2001], Fintenzauber [2006]) und andere Text-Klang-Experimente (Blende 8 [1991], Die Kathedrale von Ell [1999]). schwarzloch (Budapest 2009) wurde von Kristóf Szabó ins Ungarische übersetzt. Tom Nisse übersetzte eine Auswahl von Gedichten in der Sammlung là-bas = dort (2020) ins Französische. Nico Helminger selbst übersetzte unter dem Titel Fin de siècle - Phantombild (2004) Auszüge aus Breccia und Poasis von Pierre Joris ins Deutsche.

Miss Minett wurde 1993 mit dem Preis des Kulturvereins Minettsdapp ausgezeichnet. Nico Helminger war mehrfach Preisträger beim Concours littéraire national. 2008 erhielt er für sein Gesamtwerk den Prix Batty Weber. Nico Helminger gehört, neben Pol Greisch, Jean Portante und Guy Rewenig, zu den Autoren, die zweimal mit dem Prix Servais ausgezeichnet wurden: 2014 für Abrasch, 2018 für Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge. Für Letzteres erhielt er ebenfalls 2018 den Lëtzebuerger Buchpräis. Nico Helminger war 2012 Autor in residence am TNL in Luxemburg. Von 2013 bis 2018 war er künstlerischer Leiter des Printemps des poètes – Luxembourg. Er war Mitglied des LSV bis zu dessen Auflösung. Er ist seit 2015 Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland sowie Gründungs- und Ehrenmitglied des 2020 gegründeten Schriftstellerverbandes A:LL Schrëftsteller*innen.

Dieser Artikel wurde verfasst von Claude D. Conter und Tim Reuter

Veröffentlichungen

Übersetzungen

Mitarbeit bei Zeitungen

  • Titel der Zeitschriften
    Action poétique. Revue trimestrielle
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  • Titel der Zeitschriften
    Artic-Magazin. Zeitschrift für Kunst, Literatur und Philosophie
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  • Titel der Zeitschriften
    Cahiers luxembourgeois (Les). revue libre des lettres, des sciences et des arts
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  • Titel der Zeitschriften
    Europe. revue littéraire mensuelle
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  • Titel der Zeitschriften
    Galerie. Revue culturelle et pédagogique
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  • Titel der Zeitschriften
    ndl (Neue deutsche Literatur). Zeitschrift für deutschsprachige Literatur
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Pages de la SELF (Les)
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  • Titel der Zeitschriften
    Phare (Le). Kulturelle Beilage - Point de vue culturel
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Revue / Lëtzebuerger illustréiert Revue
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Sprache im technischen Zeitalter
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Tageblatt / Escher Tageblatt = Journal d'Esch. Zeitung fir Lëtzebuerg
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    transkrit. Revue littéraire - Zeitschrift für Literatur
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    Nico Helminger

Sekundärliteratur

Auszeichnungen

Mitgliedschaft

  • A:LL Schrëftsteller*innen
  • CNLi - Conseil national du livre
  • Conseil national du livre (CNLi)
  • LSV - Lëtzebuerger Schrëftstellerverband [1986-2016]
  • Minettsdapp (De)
  • PEN Zentrum Deutschland
  • Printemps des Poètes - Luxembourg

Archiv

  • CNL L-0173
Zitiernachweis:
Conter, Claude D./Reuter, Tim: Nico Helminger. Unter: , aktualisiert am 24.01.2024, zuletzt eingesehen am .