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Foto: Nico Helminger


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© Philippe Matsas/CNL

Nico Helminger

Nicolas Helminger
Differdingen

Pseudonyme: Tomas Bjørnstad

Nico Helminger besuchte in Esch/Alzette die Grundschule und das Lycée de garçons. Nach dem Abitur 1972 nahm er ein Studium der Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft auf, das ihn von Luxemburg über Saarbrücken nach Wien und Berlin führte. 1980 ließ er sich in Paris nieder, wo er zunächst als Zeitungsverkäufer und später als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte arbeitete. 1984 wechselte er als freier Autor nach München. Es folgten Aufenthalte in Heidelberg und erneut in Paris. 1999 kehrte er schließlich nach Luxemburg zurück, wo er bis heute in Esch/Alzette lebt und als freier Schriftsteller tätig ist. Nico Helminger ist der ältere Bruder von Guy Helminger.

Sein Werk ersteckt sich über alle drei Hauptgattungen der Literatur – Drama, Lyrik und Epik – und demonstriert eine stilistische und thematische Bandbreite, wobei seine überwiegend auf Luxemburgisch und Deutsch geschriebenen Texte nicht nur genreübergreifende Merkmale und eine reflektierte Auseinandersetzung mit gattungspezifischen Konventionen aufweisen, sondern sich auch aus Stoffen und Motiven der Weltliteratur nähren.

Helmingers literarische Anfänge Ende der 1970er Jahre stehen im Zeichen der sozialen und politischen Funktionszuweisung von Literatur mit einem theoretischen Fokus auf dem Medium des Theaters. Seine Magisterarbeit über Dario Fo und das Volkstheater bei Arno Paul geht bereits auf die Politisierung dramatischen Schreibens ein. Indem er etwa in rosch oder déi lescht rees (1980) an Bertolt Brechts Konzept des epischen Theaters anknüpft, bekräftigt er seine Überzeugung, dass Literatur als Anregung zum Handeln durch Erkenntnis fungiert. De schantchen (1989), Miss Minett (1993), und schwarzloch (2006) sind gesellschaftskritische Stücke, welche die psychologischen Verkümmerungen und sozialen Defizite in der strukturschwachen Minetteregion aufzeigen. Die Geschichten von Außenseitern werfen ein Licht auf bedrückende Lebensumstände und die emotionale Abstumpfung, die bei Einzelnen daraus erwachsen. In den Stücken Kitsch oder d'liewen as uschass, ët sief dann, den dout erweist sech als ligen (2001) und leschten enns käe liewen (2001) sowie im Prosaband de john grün, dout am bushaischen (2002) wird die Zeitdiagnose radikalisiert; innerfamiliäre Gewalt, sexueller Missbrauch, Selbstmord, Sucht und Arbeitslosigkeit werden hier als Symptome einer entfremdeten Dekadenzgesellschaft gezeichnet. Vor allem seit Ende der 1990er Jahre beschäftigen Helminger die Simulation virtueller Welten (Ein Mond aus kochender Milch [2003], f@king love & death sou niewebäi [2003], Pink Slip Party [2011]) sowie die aus der Überlagerung von fiktiven und realen Welten entstehenden, erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Konsequenzen (spontanen départ [1998]). Die luxemburgisch-, deutsch-, französisch- und englischsprachige Komödie now here & nowhere, die 2008 unter Regie von Frank Hoffmann auf der Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden aufgeführt wurde, problematisiert das kulturelle Zusammenleben im Einwanderungsland Luxemburg sowie das paradoxe Phänomen der Sprachlosigkeit als Begleiterscheinung von Mehrsprachigkeit. Das 2008 unter der Regie von Ali M. Abdullah am TNL inszenierte Stück seven up & some down, mit Olivier Garofalo als Dramaturg, ist dem niederländischen Bildhauer Willem Bouter gewidmet. Im Verlauf einer sprunghaften Selbstbefragung tritt ein Mann mittleren Alters in einen imaginären Dialog mit Skulpturen, die als Sinnbilder für Personen aus seinem Leben fungieren. Für die Ruhrfestspiele Recklinghausen 2012 entstand das Stück Zu schwankender Zeit an schwankendem Ort, das Identitätsunsicherheit in einer neoliberalen Welt darstellt, die durch die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Realität und Simulation nur noch als Simulacrum wahrgenommen wird. Wandelnde politische und soziale Koordinatensysteme sowie ein schwankender Wertehorizont entlassen die zwölf Protagonisten in eine konfliktreiche Zukunft, die von Verlustängsten und Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. Die Komödie Boulevard Royal, die in einer Inszenierung von Jean-Paul Maes von denTheater im Kapuzinertheater im Februar 2012 uraufgeführt wurde, greift Stoffe und Figuren aus Shakespeares Stücken Romeo and Juliet sowie Titus Andronicus auf und handelt von einer aus Geschäftssinn arrangierten Ehe zwischen den Kindern zweier Sanitärunternehmen. Lügen, Scheinhaftigkeit, Betrug sind komödientypische Elemente des Stücks.

Analog zu den Theaterstücken setzt das lyrische Werk zunächst noch verstärkt mit einer Auseinandersetzung mit politischen Ereignissen und Alltagsphänomenen an. In einer blättert im fahndungsbuch (1979) und Patton & Co (1992) werden politische Legendenbildungen – etwa im Zusammenhang mit John F. Kennedy oder dem Sozialismus – kritisch hinterfragt oder Aspekte der Erinnerungskultur, des Vereinslebens und der Arbeitswelt thematisiert. Gleichzeitig werden repressive Machtstrukturen von Staat, Kirche und Medien bloßgestellt oder luxemburgische Geschichtsmythen, etwa solche aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, dekonstruiert. landschaft mit seilbahn (1986) verknüpft Ideologie- und Sprachkritik mit Formalästhetik, die für Helminger in den 1990er Jahren eine zunehmende Bedeutung erhielt und auch für die lyrischen Adaptionen von Haikus und Nagautas gilt. Mit einer Reihe von konzeptuellen Lyrikbänden (in eigener säure [1996], grenzgang [2003], besuch bei den älteren werken des mondes [2008], Geckegen Hunneg [2025]) schuf er eine eigene Poetologie, deren Zentrum die Form der »Sequenz« bildet – ein freies, nicht metrisch gebundenes Gedichtformat mit charakteristischen Vers-Einschiebungen. Jeder Sequenzen-Band entwickelt sich aus einem allegorischen oder metaphorischen Kern und folgt einer motivisch gesteuerten Progression. Durch Mittel wie Enjambements, Ellipsen oder Rhythmusverschiebungen entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Verdichtung, sodass der Sinn sich nicht abschließend fassen lässt, sondern sich stetig in der Bewegung entfaltet. Zudem kombiniert Helminger eigene Texte mit Fremdtexten (u. a. von Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke oder Ernst Herbeck) und visualisiert somit literarische Transformations- und Überlagerungsprozesse – exemplarisch dargestellt im Gedicht palimpsest aus grenzgang. Das Sprachspiel mit französischen, deutschen, englischen, italienischen oder luxemburgischen Wörtern will Irritation erzeugen und – insbesondere in in eigener säure – eine poetische Matrix schaffen, die einer DNA-Sequenz gleicht. Die Texte aus dem zweigeteilten Band besuch bei den älteren werken des mondes gehen einerseits aus einer Zusammenarbeit mit dem Fotografen Yvon Lambert hervor und nehmen andererseits Bezug auf eine Schreibwerkstatt mit einer Gruppe von Menschen mit Behinderung, die vom soziokulturellen Verein Coopérations in Wiltz betreut wurde. In Geckegen Hunneg stellt sich das lyrische Ich den Fragen nach der Herkunft, Sozialisation und Individuation, nach Weltwahrnehmung und Weltgewandtheit, wobei der kindliche Spracherwerb als Medium der Weltentstehung und die spätere Sprachermächtigung als Mittel gegen die Gefahr der Selbstentfremdung erscheinen. Vergleichbar mit der ambivalenten Wirkung des titelgebenden »Mad honey« (auch pontischer Honig genannt), vermitteln durchweg surrealistisch anmutende Sprachbilder Eindrücke von Rauschzuständen wie etwa Bewusstseinsstörungen, Schwindel oder Halluzinationen.

Der Gedichtband Abrasch (2013), für den Helminger mit dem Prix Servais 2014 ausgezeichnet wurde, ist in fünf, ungleich lange Zyklen gegliedert. Bis auf den Zyklus giele botter mit Gedichten auf Luxemburgisch, Deutsch und Französisch, sind alle anderen Texte auf Deutsch, abgesehen von den Motti, unter denen ein englischsprachiger Text eines langjährigen geistigen Wegbegleiters Helmingers, Henry David Thoreau, zu finden ist. Abrasch, zugleich Titel des Gedichtbandes und des längsten Zyklus, bezeichnet eine gewollte oder unbeabsichtigte Farbabweichung bei Orientteppichen, die dann zustande kommt, wenn beim Teppichknüpfen der Faden ausgeht und sodann eine kleine Abweichung in der Tönung in Kauf genommen werden muss. Zugleich handelt es sich um einen von Ossip Mandelstam in der Lyrikgeschichte benutzten Begriff, um Dichtung als ein Textgewebe zu beschreiben. Damit erhellt Helminger seine Poetik, wonach er Dichtung als Variation und Weiterführung ihr vorausgehender Texte begreift. Helminger greift auch in dem Sinne auf Ossip Mandelstam zurück, der die Quantentheorie als Modell dichterischer Kreativität begreift. Fragmente des Gedichtes wurden im Januar 2016 in der Philharmonie in Luxemburg in einer Klang- und Bildinstallation mit Vertonungen von Camille Kerger und Bildern des österreichischen Malers Markus Huber aufgeführt. 2020 erschien im irischen Verlag redfoxpress das mit sieben Serigrafien von Robert Brandy illustrierte Künstlerbuch Namen, in dem Helminger in 14 Namur-Gedichten Beobachtungen der wallonischen Hauptstadt festhält. Saumes Kinoplakat (2022) ist eine in vier Zyklen eingeteilte Sammlung von Anagrammgedichten, deren Entstehung mit dem unter dem Heteronym Tomas Bjørnstad veröffentlichten Werk Von der schönen Erde (2022) zusammenhängt. Die vom Autor zu Petrarca- oder Shakespeare-Sonetten zusammengestellten Verse sind durchgehend nach einem Computeralgorithmus verfasste Anagramme, womit auf das in und mit den Texten thematisierte Verhältnis zwischen den Grenzen kreativer Sinnstiftung und der maschinellen Beliebigkeit Künstlicher Intelligenz verwiesen wird. Ausgangspunkt können Verse oder Aussagen anderer Dichter wie Jorge Luis Borges, Ernst Jandl, Jean-Paul Jacobs, Tania Naskandy, Guy Helminger oder Jean Krier sein, sodass die Sammlung auch ein Kommentar zur Entwicklung der Poesie von der Renaissance über den Dadaismus und die Postmoderne bis in die Zukunft darstellt.

Nicht zuletzt in Helmingers Prosa wird Literatur als ein Experimentierfeld verstanden, in dem ästhetische Formen variiert, Traditionen adaptiert und Erwartungshaltungen bewusst provoziert werden, wie im Debütroman Frascht (1990) oder im Zeitungsroman in vier Jahreszeiten. Die schöne Pharisäerin, den er 1995 im Tageblatt veröffentlichte. Auch in seinen Reiseberichten und -erzählungen aus Algerien (medea, enn august, 1982 [1997]) werden Grenzüberschreitungen ästhetisch verhandelt. Iwwer Land (1998) zeigt in neun Kurzgeschichten eine fragwürdige ländliche Welt der 1980er und 1990er Jahre, die von psychischer Brutalität, Drogenmissbrauch, zerplatzten Träumen oder dem BSE-Skandal geprägt ist. Im Roman Lëtzebuerger Léiwen (2013), dessen erste Fassung zwischen 1970 und 1974 entstanden ist, wird in 41 Kapiteln, die wiederkehrende Titel tragen, die Jugendzeit von fünf Freunden erzählt, die in der Zeit des Schülerstreiks und der sozialen Umbrüche zu Beginn der 70er Jahre in Esch/Alzette sozialisiert werden. Der Roman endet im Mai 1974 am Wahlabend des Erfolgs der sozialliberalen Koalition. Kontrastiv zum politischen Diskurs und zur Politisierung der Gesellschaft montiert der Erzähler Episoden, in denen die Musik, die sexuelle Erfahrung, die Cafés und das Partyleben als zentral im Alltagsleben der Jugendlichen gezeichnet werden. Die Perspektive einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft wird im Entwicklungs- und Generationenroman einer Jeunesse dorée vom Alltag eingeholt, insofern Protagonisten mit Ausnahme von Pascal Hastert den vorgeebneten beruflichen und sozialen Weg der wohlhabenden, bürgerlichen Elterngeneration beschreiten. Im Folgeroman Autopsie (2014), der in den 1980er Jahren spielt, wird vor dem Hintergrund markanter Ereignisse in Luxemburg wie der Bommeleeër-Affäre oder des Papstbesuches die absteigende soziale Entwicklung von Joe Schreiber geschildert, der sich in Drogen, Alkohol, Partys und Kriminalität verliert. Helminger porträtiert in einem narrativen Geflecht von Erinnerungen, Berichten und inneren Monologen insbesondere die Psyche und das Innenleben eines gefährdeten Adoleszenten, dessen Suche nach Auswegen erfolglos bleibt. In der Kurzerzählung Flakka entwirft Helminger einen bewusst trashigen, humorvoll überzeichneten Krimiplot im Setting von Esch/Alzette, in dem Politik, Immobilienhandel, Drogenkriminalität und islamistischer Terrorismus aufeinandertreffen.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Luxemburg bis in die 2000er und 2010er Jahre thematisiert Helminger in Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge (2017) in satirisch-kritischer Weise. Erzählt wird die Individuations- und die sexuelle Initiationsgeschichte von Menn Malkowitsch, der aus der Gesellschaft ausbrechen will, nach einer Phase der Selbstfindung im Angestelltenverhältnis bei der Post arbeitet, bevor er in der PR- und Kommunikationsagentur „Ubbus“ die Nation-Branding-Kampagne mitgestaltet. Der Roman, der sich im Sinne einer postmodernen Literaturvorstellung von François Lyotard zugleich als Erzählung versteht, enthält die ursprünglich in Sudelbüchern festgehaltenen Aufzeichnungen des Protagonisten. Dieser endet nach einem Burnout und einem Aufenthalt in einer Nervenklinik in einer Portiersloge einer Reglementierungsbehörde. Helminger erzählt gebrochene Biografien, thematisiert soziale Risse und psychische Störungen, wie z. B. ein bipolares Krankheitsbild, portraitiert eine von beruflichem Erfolgsdruck, Konsum, Materialismus und von Doppelmoral gezeichnete Gesellschaft und diagnostiziert eine auf Schein basierende Selbstvermarktung des Einzelnen in einer von Konkurrenzdruck geprägten Gemeinschaft, in der die Simulation und die Künstlichkeit Authentisches und Individuelles überlagern.

In Kappgras (2023) versucht ein aus dem Koma erwachter, ich-erzählender Journalist und Schriftsteller sich mit Hilfe einer Gesprächstherapie und unter Pseudonym veröffentlichter biografischer Schriften seines eigenen Lebens zu erinnern. Der in zwei Bücher mit je drei Kapiteln eingeteilte psychologisch-kriminalistische Entwicklungsroman zeichnet chronologisch die einzelnen Lebensphasen bis zu dem das Koma verursachenden Unfall nach. Dreh- und Angelpunkt der Anamnese ist die Frage, inwiefern dieser Unfall mit den investigativen Recherchen zu einem korrupten und mafiösen internationalen Netzwerk diverser gesellschaftlicher Akteure sowie dem Verdacht des Protagonisten zusammenhängt, seine Frau sei plötzlich auf betrügerische Weise durch eine Doppelgängerin ersetzt worden. Der Handlung und dem komplexen Gesellschaftspanorama wird durchwegs die Beschreibung von Klassikern der Filmgeschichte gegenübergestellt, wobei es zu Überschneidungen kommt, durch welche die Grenzen zwischen Realität und Fiktion durchlässig erscheinen.

Die seit 2018 erscheinenden Texte von Tomas Bjørnstad, der laut Verlagsangaben 1984 in Trondheim geboren wurde und in Luxemburg aufgewachsen ist, leiten eine neue Phase in Nico Helmingers Werk ein. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Heteronym, also einen fiktiven Autor mit einer fiktiven Biografie, den Helminger im Sinne von Fernando Pessoa ins Leben gerufen und dessen Geheimnis er erst mit der Veröffentlichung von Von der schönen Erde (2022) gelüftet hat. Das autofiktionale Spiel mit der Identität dieses erfundenen Schriftstellers ist ein zentraler stilistischer und thematischer Bestandteil aller als „autobiografische“ Schlüsseltexte vermarkteter Publikationen, weil das lyrische und erzählerische Ich jeweils als Alter Ego des vermeintlichen Urhebers dargestellt werden. Mithilfe von text- und werkimmanenten, para- und intertextuellen Verweisen wird mit der Autor-Persona Bjørnstad eine werkübergreifende literarische Kunstfigur konstruiert. Dieser aufstrebende Schriftsteller, der durch einen ständigen Bezug auf literarische und musikalische Vorbilder die Pose des poeta doctus einnimmt, versteht sich als ein kritisches Sprachrohr der Luxemburger Generation Y.

Der in sechs Zyklen unterteilte Gedichtband Fjorde (2018), dessen Entstehung und Veröffentlichung in Die Tanzenden thematisiert wird, nimmt mit seinem Titel Bezug auf Bjørnstads Geburtsland Norwegen, das gemeinsam mit diversen Reisezielen als ein ambivalenter Sehnsuchtsort erscheint. In absurd-grotesken, aber auch prosaischen, den Alltag zugleich persiflierenden und romantisierenden Sprachbildern verhandelt das lyrische Ich neben Herkunftsfragen die Idiosynkrasien der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Eine wichtige Verbindungslinie zum Debütroman ist das Motiv des Tanzes, das durch die freien Verse mit Bjørnstads Hauptthemen verwebt wird: dem Nacht- und Kulturleben, dem DJing, dem Rausch, dem Alkohol- und Drogenkonsum, der Orientierungslosigkeit oder der Flüchtigkeit des Moments und des Daseins. Ausgangspunkt von Die Tanzenden (2019) ist eine gescheiterte Liebesbeziehung des Protagonisten, deren Aufarbeitung mit seiner den Roman prägenden Suche nach Identität und Lebenssinn parallelisiert wird, wobei die Flucht in den oberflächlichen Hedonismus von Kneipen- und Discobesuchen keine Lösung bietet. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach einer künstlerischen Lebensführung und dem Lebensalltag einer bürgerlichen Existenz, leidet er an einer hypokritisch und dekadent empfundenen Luxemburger Gesellschaft, der er sich letztlich jedoch nicht entziehen kann, weil er sie selbst verkörpert. Die psychischen Spannungen passen insofern zur formalen Gestaltung des Romans, als die zentralen Erzählabschnitte in der Ich-Form durchwegs durch fragmentarische Einschübe von Notizen, E-Mails, Blogeinträgen oder Auszügen aus einem dystopischen Comic-Skript unterbrochen werden. Satirisch-kritische Passagen betreffen insbesondere die Analyse gesellschaftsrelevanter Ereignisse (z.B. die Elf-Aquitaine-Affäre, der ING-Marathon oder das zehnjährige Jubiläum des Mudam), die Beschreibung von bekannten Luxemburger Persönlichkeiten oder die Diffamierung bestimmter Berufsgruppen wie Lehrern, Polizisten oder Politikern. Wegen eines kryptischen Hinweises in Die Tanzenden wurde zunächst auch Samuel Hamen im Feuilleton als möglicher Urheber von Bjørnstads Texten diskutiert.

Von der schönen Erde erscheint in Bjørnstads Werk als ein aus Prosa und Poesie, Erzähl-Entwürfen und Dialogen, Tagebucheinträgen und Auszügen aus bekannten und fiktiven literarischen Texten gemischtes Opus magnum, mit dem das Spiel der Autofiktion auf die Spitze getrieben und die Kunstfigur Bjørnstad durch eine Zersplitterung in mehrere Protagonisten dekonstruiert wird. So wird mit der erfundenen Figur Guy H unverhohlen auf Nico Helmingers Bruder Guy angespielt, der folglich als weiterer potenzieller Urheber der Bjørnstad-Texte gesetzt wird. Das aleatorische, multiperspektivische und metafiktionale Werk besteht aus 128 Kapiteln, deren Reihenfolge der Leser selbst bestimmen muss, sodass sich die einzelnen Handlungsstränge, vergleichbar mit Julio Cortázars Vorbildroman Rayuela (1963), unterschiedlich kombinieren lassen. Indem der Untertitel Fragmente & Skizzen die Gattungsfrage problematisiert und auch fiktionsintern widersprüchliche Angaben über die Beschaffenheit des Textes geliefert werden, sperrt er sich selbst gegen eine genauere Klassifikation. Im Zentrum stehen Bjørnstads Recherchen zu Suiziden von Mitarbeitern eines dubiosen internationalen Beratungsunternehmens, die durch die teils lückenhafte Darstellung daran angrenzender Lebensgeschichten anderer Autorenfiguren ergänzt werden. In dem Kontext werden zudem Themen wie die Entfremdung der Arbeitswelt in einer neoliberalen Konsum- und Leistungsgesellschaft, verlorene Kindheit und soziale Desillusionierung, die zukünftigen Gefahren der künstlichen Intelligenz, die Eitelkeiten des (luxemburgischen) Kulturbetriebs oder die Fragilität poetischer Existenz behandelt. Nicht zuletzt vermittelt das Handlungsgeflecht auch ein Porträt der Esch-Alzette nachempfundenen und sich zu einer Smart City wandelnden Ortschaft Bjørnstadt, wo mit BjørnBling22 ein Esch22 parodierendes Kulturjahr veranstaltet wird, das auf den von Bjørnstad missbilligten Seilschaften zwischen Politik und Wirtschaft gründet.

Bjørnstads leipogrammatischer Thriller Die Verlorenen. Film (Bande non dessinée) (2024) erzählt in einer sich an Filmdrehbücher anlehnenden sowie das Genre der Graphic Novel evozierenden Form von zwei Kopfgeldjägern, die auf der Suche nach einem Kunstsammler in eine undurchschaubare Verschwörung um KI-Hirn-Chips geraten und infolgedessen selber zu Verfolgten werden. Neben dem Spiel mit intermedialen Verweisen nimmt die Handlung auf einer metafiktionalen Ebene parabelhafte Züge an, wenn in einer Binnenerzählung die Allmacht von Erzählinstanzen demonstriert wird. Zugleich werden Erzähltechniken ganz allgemein ad absurdum geführt.

Auch als Kinderbuchautor trat Helminger hervor. In den drei Kinderstücken ollimimischmulli (1978), wou geet ët hei op schlidderascht (1983) oder So, wéi as dat ... mat der Léift? (1985) ruft er als aufgeklärter Bürger zur Zivilcourage auf und vermittelt ethische Grundsätze. Zugleich setzte er sich auch theoretisch mit dem Kindertheater auseinander; u. a. im Aufsatz Luxemburgische Ansätze. Vom Märchentheater zur »Spillfabrik« (1978), in dem er sich mit einem emanzipatorischen Konzept für eine pädagogische Neuausrichtung des Theaters stark macht. Zusammen mit Guy Rewenig gab er die Sammlung D'Schoul brennt (1980/2003) heraus, die auch Lieder aus Stücken der Kindertheatergruppe Spillfabrik enthalten. Weiterhin schrieb er den Text für den von Simone Johann konzipierten und illustrierten Band De giele Fleck (2008) über die Freundschaft zwischen einem gelben Farbklecks und dem Regenbogenmann.

Helminger veröffentlichte Gedichte und Prosatexte in verschiedenen renommierten internationalen und luxemburgischen Anthologien und Zeitschriften wie Europe, Action poétique, Galerie oder Les Cahiers luxembourgeois. Einige Texte wurden von Fernand Kimmel, Albert Marinov und Josée Dostert vertont. Aus der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Camille Kerger entstanden die vier Kammeropern Melusina (1995), Rinderwahn (1998), Ein Mond aus kochender Milch (2001) und Fintenzauber (2006) sowie andere Text-Klang-Experimente wie Blende 8 (1991) und Die Kathedrale von Ell (1999). 2006 gestaltete er anlässlich der Jahrhundertfeier der Stadt Esch den Themenabend De Minett – Bréch an der Landschaft. schwarzloch (Budapest, 2009) wurde von Kristóf Szabó ins Ungarische übersetzt. Tom Nisse übersetzte eine Auswahl von Gedichten in der Sammlung là-bas = dort (2020) ins Französische. Philippe Blasen und Nora Chelaru übersetzten now here & nowhere ins Rumänische. Helminger selbst übersetzte Patrick Süskinds Einakter Der Kontrabass (1981) ins Luxemburgische; das Stück wurde 2013 im Kasemattentheater uraufgeführt. Unter dem Titel Fin de siècle - Phantombild (2004) übertrug er Auszüge aus Breccia (1987) und Poasis (2001) von Pierre Joris ins Deutsche.

Mehrfach war Helminger Preisträger beim Concours littéraire national. Miss Minett wurde 1993 mit dem Preis des Kulturvereins De Minettsdapp ausgezeichnet. 2008 erhielt er für sein Gesamtwerk den Prix Batty Weber. Neben Pol Greisch, Jean Portante und Guy Rewenig gehört er zu den Autoren, die zweimal mit dem Prix Servais ausgezeichnet wurden: 2014 für Abrasch, 2018 für Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge. Für Letzteres erhielt er ebenfalls 2018 den Lëtzebuerger Buchpräis. Helminger war 2012 Autor in residence am TNL in Luxemburg. Von 2013 bis 2018 war er künstlerischer Leiter des Printemps des poètes – Luxembourg. Er war Mitglied des LSV bis zu dessen Auflösung. Seit 2015 ist er Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland sowie Gründungs- und Ehrenmitglied des 2020 gegründeten Schriftstellerverbandes A:LL Schrëftsteller*innen.

 

Dieser Artikel wurde verfasst von Claude D. Conter und Tim Reuter

Veröffentlichungen

Übersetzungen

Mitarbeit bei Zeitungen

  • Titel der Zeitschriften
    Action poétique. Revue trimestrielle
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Artic-Magazin. Zeitschrift für Kunst, Literatur und Philosophie
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Cahiers luxembourgeois (Les). revue libre des lettres, des sciences et des arts
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Europe. revue littéraire mensuelle
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    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Galerie. Revue culturelle et pédagogique
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    ndl (Neue deutsche Literatur). Zeitschrift für deutschsprachige Literatur
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Pages de la SELF (Les)
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Phare (Le). Kulturelle Beilage - Point de vue culturel
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Revue / Lëtzebuerger illustréiert Revue
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Sprache im technischen Zeitalter
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    Tageblatt / Escher Tageblatt = Journal d'Esch. Zeitung fir Lëtzebuerg
    Verwendete Namen
    Nico Helminger
  • Titel der Zeitschriften
    transkrit. Revue littéraire - Zeitschrift für Literatur
    Verwendete Namen
    Nico Helminger

Sekundärliteratur

Auszeichnungen

Mitgliedschaft

  • A:LL Schrëftsteller*innen
  • CNLi - Conseil national du livre
  • Conseil national du livre (CNLi)
  • LSV - Lëtzebuerger Schrëftstellerverband [1986-2016]
  • Minettsdapp (De)
  • PEN Zentrum Deutschland
  • Printemps des Poètes - Luxembourg

Archiv

  • CNL L-0173
Zitiernachweis:
Conter, Claude D./Reuter, Tim: Nico Helminger. Unter: , aktualisiert am 08.07.2025, zuletzt eingesehen am .